Doch weniger ist bekanntlich manchmal mehr, und so wurde einfach die Tour unseren Möglichkeiten angepasst und alles, was wir zum Überleben brauchen, in 45l Rucksäcke gepackt. Das Transportproblem löste die SBB für uns, da sie zum einen selbst Umsteigezeiten von zwei Minuten problemlos meistert, zum anderen aber bis zum Ausgangsort unserer Route fährt: Scuol verfügt nicht nur über einen Bikepark, sondern ist auch die Endstation der Rätischen Bahn. Übernachten wollten wir im Tausendsternehotel.
Die logische Konsequenz davon war aber, dass unsere Rucksäcke etwas schwerer wurden – schließlich mussten darin ja neben Bikeausrüstung nun auch die Hotelsuite mitsamt Minibar sowie das heiße Buffet Platz haben.
Die erste Etappe war von Scuol aus unterhalb des Piz Lischana (3105m) entlang Richtung S-Charl angedacht, doch es dauerte gar nicht lang, bis wir ein Opfer unserer Wanderkarten im Maßstab 1:50000 wurden: Fröhlich schoben wir den steilen Pfad zur Lischana-Hütte des Schweizer Alpenvereins hinauf, als sich über unseren Köpfen ein Gewitter und in unseren Köpfen ein großes Problem zusammen braute. Denn was die Karte nicht wusste, der Hüttenwirt dafür aber um so besser: Der in der Karte als Wanderweg deklarierte Pfad vom Hochplateau hinab nach S-Charl ist in Wirklichkeit weniger Weg als Steig, eventuell für die Vertrider interessant, für uns mitsamt 16kg Rucksäcken und Fahrrädern aber unpassierbar. Vor allem in Anbetracht des heranziehenden Gewitters. Die Entscheidung, wieder in Richtung Scuol abfahren zu müssen, fiel allerdings wenig schwer, denn vom hochschieben war uns der Weg schon als schöner Singletrail bekannt.
Der einzige Haken: Um 17 Uhr waren wir genauso weit wie am Beginn des Tages, nur mit 1500hm in den Beinen. Um nicht ganz so wenig geschafft zu haben, radelten wir noch einige Meter bis kurz hinter S-Charl, wo wir Maggis Schinken Nudeln genossen, unser Tarp aufspannten und uns beim In-die-Schlafsäcke-Kuscheln ernsthafte Sorgen machten, wie dicht dieses Tarp eigentlich war.
Der nächste Morgen lieferte die Antwort: mäßig bis saumäßig. Der Schlafsack wog etwa das Doppelte, die Klamotten waren nass und im Topf zog eine Schnecke Schleimspuren vor sich hin. Das alles konnte unsere Stimmung jedoch nicht im Geringsten dämpfen. Verantwortlich dafür waren die berühmten kurzwelligen Lichtstrahlen, die das Engadin in wunderschönen Blautönen erstrahlen lassen, wenn die Sonne ungehindert scheint. Und das tat sie an diesem Morgen in voller Pracht. Gut gelaunt aßen wir also unser Porridge von Haferflocken und Bergquellwasser an braunem Zucker, legten die nassen Sachen zum Trocknen über den Vorbau und traten wieder in die Pedale.
Vorbei am höchstgelegenen Arvenwald der Welt – klingt unspektakulär, aber Bäume auf 2300m, wo gibt’s denn so was? – führte uns der ausgespülte, sandige Trail über grüne Wiesen und durch lichte Wälder für kurze Zeit zurück in Richtung Zivilisation, als wir gegen Mittag den Ofenpass passierten. Dabei mussten wir einmal öfter feststellen, wie wenig wir den Duft und die Akustik von Motorrädern und Autos vermisst hatten. Aus gegebenem Anlass fiel die Rast hier eher kurz aus, wir hatten ohnehin noch genug zu tun, als wir unterhalb des Geröllgipfels Piz Daint (2968m) erneut unerwartet aufgehalten wurden: Die direkte Verbindung in Richtung Döss dal Termel war – so verkündete ein amtliches Schild an der Abzweigung – wegen einer Gerölllawine unpassierbar. Als wir uns gerade klar wurden, dass uns diese kleine Unpässlichkeit 500hm Tragen einbringen würde, profitierten wir davon, nicht gleich los zu marschieren, sondern erst einmal zu pausieren.
Just in dem Moment, da wir aufbrechen wollten, kam nämlich ein freundlicher Mountainbiker über den durch die Lawine angeblich versperrten Weg angefahren und brachte uns die frohe Botschaft der Passierbarkeit.
Auf diese Weise blieben uns also doch einige Anstrengungen erspart und wir freuten uns über die grandiose Abfahrt hinab zum Lago di Livigno, die uns flowig und mit unzähligen Kehren gespickt dem türkisblauen Wasser des Sees immer näher brachte und schließlich in einem Tal, welches besser in British Columbia aufgehoben wäre, ausspuckte. Zwischen uns und dem Tagesziel Livigno lag nun nur noch der Monte Cassa del Ferro, welcher mit seinen 3140m hoch aufragenden Felsblöcken leider nicht in unserer Gewichtsklasse spielt, weshalb wir eine Umfahrung der direkten Attacke vorzogen. Die letzten Kilometer vom Lago di San Giacomo über den Passo die Val Alpisella sind bei Mountainbikern sehr beliebt, was in Anbetracht der imposanten Schutthänge, saftig grünen Wiesen und stilvoll eingestreuten Felsblöcke nicht verwundert. Am Ufer des Sees angekommen erfreuten wir uns diesmal über Maggis Nudeln mit 4-Käse-Sauce, welche erneut schlichtweg unglaublich schmeckten, ob es am guten Wasser oder unserer Anspruchslosigkeit lag, ist bis heute nicht zu klären. Nach einem Bad im Fluss schlugen wir unser Lager auf und genossen den unglaublichen Sternenhimmel – übrigens ein Wort, das erst verwendet werden sollte, wenn man einmal eine Nacht unter freiem Himmel abseits der Zivilisation verbracht hat – dagegen kann ein Rolls Royce Sternenhimmeldach mit 6500 Leuchtdiodensternen schlicht und einfach einpacken.
Am nächsten Morgen wurden wir nicht durch Sonnenstrahlen, sondern durch Gämsen geweckt. Und zwar auf die unsanfte Tour. Etwa 100hm oberhalb unseres Tarps hielten es zwei der Tiere um sieben Uhr morgens für spaßig, einige Steine gen Tal zu treten. Sehr aufmerksam. Nachdem dieser morgendliche Mordanschlag überlebt war fuhren wir nach Livigno, genossen italienisches Frühstück und besuchten die Bikestation des Mottolino Bikeparks. Die Mitarbeiter waren alle super freundlich und erlaubten uns, unser schweres Gepäck bei ihnen abzustellen. Außerdem kostet eine Zweitageskarte soviel, wie am Hasenhorn die Tageskarte. Und was man dafür bekommt – phänomenal! Der Bikepark dürfte manch einem von der Weltmeisterschaft 2005 bekannt sein, für mich war es der erste, aber sicher nicht der letzte Besuch im Engadin. Ohne anzustehen befördert die Gondel zwei Mountainbiker mitsamt Rädern von 1850m auf den 2398m hohen Il Mottolino. Auf den Biker warten also sage und schreibe 550hm Abfahrt pur! Die erste Hälfte hiervon legt der Mountainbiker oberhalb der Waldgrenze zurück, anschließend taucht er in lichte Arvenwälder mit nadelbedecktem, griffigen Waldboden ein. Neben der WM-Strecke, einem ruppigen, ausgewaschenen und schnellen Falllinien-Downhill verfügt der Bikepark über eine gemäßigtere DH-Strecke, zwei Freeride-Abfahrten, unzählige Steilkurven, einen Dirtpark mit vier spaßigen Sixpacks unterschiedlicher Größe nebeneinander und einen North-Shore Trail. Das alles kennt man aus anderen Bikeparks, nur nicht in solch grandioser, alpiner Umgebung und Dimension. Was man aber nicht aus anderen Bikeparks kennt, erinnert an die mit dem Lift erreichbare Variantenvielfalt eines Skigebiets. Wer von der Bergstation Mottolino noch etwa zehn Minuten eine Schotterpiste entlang fährt, erreicht nochmals zahlreiche Singletrails – alle nur vom Feinsten! In unzähligen Kehren schlängeln sich diese Pfade durch die Wälder, die Reifen greifen im weichen Waldboden, die Nadeln spritzen aus den Kurven und die Bremsen werden heiß. Nach zwei Tagen war das passiert, was ich nur in Whistler für möglich gehalten hatte: Ich war kein einziges Mal auf dem selben Weg vom Berg ins Tal gekommen, insgesamt hatten wir satte 17 verschiedene Varianten mit zusammen fast zehn Höhenkilometern gefahren, die nur eines gemeinsam hatten: Flow!
Der Plan für die nächsten zwei Tage war gewesen, am Munt Cotschen (3104m) und dem Piz Vadret (3199m) entlang nach St. Moritz und von dort an zwei weiteren Tagen bis Savognin zu fahren, doch es griff einmal öfter die Regel: Erstens kommt es anders, zweitens als du denkst! Die Wettervorhersage war zu ungewiss für Tragepassagen knapp unter 3000m und wir waren so von Livigno begeistert, dass wir beschlossen, an Ort und Stelle noch andere Tagestouren zu machen… erwähnt seien an dieser Stelle nur der Trail von Il Motto (2716m) und die zahlreichen, mit der 3000er Gondel am Carosello erreichbaren Trails, die mit annähernd 1000hm pro Abfahrt zu Buche schlagen.
Den letzten Abend ließen wir schließlich kurz vor Zernez bei 500g Käsefondue/Person ausklingen und nahmen am nächsten Morgen den Zug zurück in den Komfort des Alltags.
Abschließend sei gesagt: Alta Rezia rockt! Die Region empfängt Mountainbiker mit offenen Armen und auch die Wanderer scheinen aufgeschlossener zu sein. Obendrein ist Livigno zollfreie Zone, wodurch das Benzin dort fast 50cent pro Liter billiger war und auch andere hoch versteuerte Artikel preisgünstig erstanden werden können… was will man mehr?
Stefanus & Tobias Stahl
Weitere Infos auf www.alta-rezia.com
Dieser Bericht erscheint in der Pedaliéro Nr.18 Ausgabe 01/2009 Alle Ausgaben der Pedaliéro können hier kostenlos gedownloaded werden. In wenigen Tagen / Stunden wird auch die aktuelle Ausgabe zum Download bereit sein.
Wow, echt eine tolle Tour! Da wird man richtig neidisch! Wer braucht schon Luxushotels!? ;-)
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